Nebelwelt und Sternennebel

 Eine Sammlung von Geschichten aus der Nebelwelt:
Teil 1 "Das verderbte Kloster" und der kürzlich erschienene Teil 2 "Das Schicksal von Starogrâd" spielen einige Jahrhunderte nach den bisher gespielten Pen & Paper Kampagnen. Die Arbeiten an Teil 3 habe ich bereits begonnen, sie stehen allerdings noch komplett am Anfang.
"Hinein ins neue Millennium" beinhaltet Geschichten direkt im Anschluss an die zuletzt gespielte Kampagne.

Hinein ins neue Millennium...

Skarin Dragon
Der Schlafende erwachte. Mit Erleichterung spürte er das Gefühl der ihm so vertrauten, schweren Decke, die seinen ganzen Körper mehr als großzügig bedeckte. Ein anderer hätte erleichtert geseufzt, aber über solche Dinge war er längst hinaus. Er lächelte nur. Das kosmische Ereignis war an ihnen allen vorbeigezogen, sie waren noch da, und sie konnten sich glücklich schätzen. Vor allem er, der am wenigsten zu verlieren hatte.
Er, der schon so lange Zeit von geliehener Lebenskraft der anderen lebte. Von gestohlener Lebenskraft, korrigierte er sich. Auch wenn er in seiner Gefährtin eine nicht versiegende Quelle gefunden hatte. Auch wenn sie ihm so viel Leben anzubieten hatte, Leben im Überfluss, so nahm er es ihr dennoch immer wieder weg. Doch nichts war so köstlich wie ihr Blut, wie ihr Lebenssaft. Und so war er jedes Mal von tiefer Dankbarkeit ergriffen, wenn sie ihm ihre helle Haut und die darunter schimmernden Adern darbot, auf dass er seinen Durst stillen konnte. Er gab ihr dafür alles, was er zu geben hatte. Er hoffte, dass er damit vom Parasiten, der er mal war, zum Symbionten wurde. Wenn sie jemals etwas anderes gewollt hatte, so hatte sie ihn dies niemals anmerken lassen. Er war von ihr abhängig, weil dies sein Gewissen am wenigsten belastete. Wenigstens spürte sie dabei keinen Schmerz. Wenigstens das.
Er erhob sich von seiner Schlafstätte und ging zielsicher durch die vollkommene Dunkelheit seines Schlafgemachs. So war es nun mal, alles hatte seinen Preis. Der seine war, für immer das Sonnenlicht zu meiden. Er öffnete die schweren Fensterläden um in den perfekten Sternenhimmel zu blicken, kein Mond und keine Wolke zu sehen. Der graue Tag war an ihnen vorbeigezogen, und für die nächsten tausend Jahre waren sie sicher. Und wer weiß, vielleicht würden sie dann alle reifer und weiser werden, und besser mit der sich verändernden Welt um sie herum zurechtkommen können.
Er musste schmunzeln. Dass diese Gedanken ausgerechnet im Kopf einer Kreatur entstanden waren, die dem eigenen Körper jegliche Veränderung verboten hatte. Aber so zeigte sich der Vorteil der jahrelangen Ausbildung, die er als einer der wenigen seiner Art hatte genießen dürfen. Sein Geist war nun nicht mehr von seinem Körper gefesselt. Sein Geist konnte seinen Körper nun endlich als das Werkzeug nutzen, das er zu sein hatte. Er wünschte sich, alle wären in der Lage gewesen, diesem Weg zu folgen. Aber er hatte selbst erlebt, wie schwierig es war, die fünf Wege des Seins zu meistern, und wie ungleich schwieriger der Weg bis zum Augenblick der Wahrheit gewesen war, ohne den er die Wege niemals hätte beschreiten können.
Sie konnte es. Es war der einzige Grund, warum sie ihm gefahrlos als Lebensquelle dienen konnte. Es war das einzige Argument, das seinen Verstand überzeugt hatte. Und er spürte wieder den nagenden Hunger, den brennenden Durst in sich, das unstillbare Verlangen. Die Frage war nur – würde er ihm für diese Nacht standhalten können, oder sollte er es besser gar nicht erst versuchen?
Diese Frage löste jemand anderer für ihn. Er hörte Schritte auf dem Gang, die ihm vertrauter waren als seine eigenen. Dieser leichtfüßige, schwebende, betörende Gang einer Frau, die ganz genau wusste, dass man sie als Göttin verehren würde, wenn sie das zuließe. Sie kam zu ihm wie an jedem Abend an dem sie spürte, dass er sie brauchte. Er glaubte nicht an Götter, aber wenn es eine höhere Macht war, so war er ihr für das Geschenk ihrer Liebe unendlich dankbar.
Sie war das einzige, das ihn davor bewahrte, ein gnadenloses Ungeheuer zu werden, wie so viele seiner Art zuvor. Er fürchtete sich vor dem Tag, an dem er sie erneut verlieren würde. Er wusste, dass es so kommen würde. Sie hatte schon einmal sein Angebot zurückgewiesen, sie würde es wieder tun. In diesem Punkt war sie so unnachgiebig wie kein anderer. Und so würde er sie wieder suchen müssen. Wenigstens hatte er nun das Wissen und die Fähigkeiten dazu.
Doch nicht an diesem Abend. An diesem Abend kam sie zu ihm. Sein Unglück wurde für eine weitere Nacht in die Zukunft geschoben. Als sie ihre perfekt geformte Hand auf die Türklinke legte und sie nach unten drückte, schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Wer brauchte schon eine Sonne, wenn er sie hatte?

Lôres von der Wolfenfeste
„Eine ruhige Nacht uns, Vater.“
Er war wie immer der letzte, der den Raum vor ihm verließ, immer kurz vor der abendlichen Stunde des Zwielichts. Sein jüngster Sohn Dorik-Farel, der ihn auf eine schmerzhafte Weise an seinen toten Erstgeborenen erinnerte, dessen Name jedermann hier bekannt war. Novel, der arme Novel, der ganze Stolz seiner Mutter Sarel und in seinem Tod der Quell ihres Wahnsinns.
Novel war der erste seiner vielen Kinder gewesen. Manche scherzten, dass bald alle Bewohner der Wolfenfeste nur aus seiner Sippe bestehen würden, aus Söhnen und Töchtern von Lôres, die er inzwischen mit Generationen von Frauen gezeugt hatte. Einzigartig. Aber durch die Liebe in seinem Herzen und den Wunsch nach Kindern in seinem Leib, dadurch ließ sich die mordlüsterne Bestie zähmen, die er den Kaniden verdankte. Ausgerechnet ein verweichlichter Elwen war in der Lage, den perfekten Mörder zu beherrschen.
Und gerade als er seinen Verlust vergessen konnte, vergraben unter warmen Decken von jahrzehntelangen Erinnerungen an Manneslust und Vaterfreuden, geehrt mit seinem Dienst für die Menschen, die trotz ihrer Kurzlebigkeit und ihrer vielen Schwächen und Fehlern dennoch ein Herz und eine Seele und etwas Gutes darin hatten, wurde alles wieder aufgerissen. Der Schrecken des Grauen Tages war zurückgekehrt in einem Geist, der ebenso mächtig war wie der seine, und der hätte tot sein sollen, es aber nicht war.
Lôres und Sarel, Sarel und Lôres. Es hatte vor Jahrzehnten eine Zeit der Jugend gegeben. Sie hatten mit Mächten gespielt, weil sie es konnten, ohne nachzudenken, instinktiv. Sie stiegen zur Meisterschaft auf und hatten immer noch nicht begriffen, dass sie ihre Prüfung noch nicht bestanden hatten. Der Graue Tag war ihre Prüfung, und im blutigen Abendrot des Serias, als die Wolfenfeste unter der Belagerung einzustürzen drohte, da hatten sie erfahren, was Willenskraft, Treue und Überzeugung wirklich bedeuteten.
Sie hatten beinahe ihr Leben gegeben, um die Welt zu schützen, die die Menschen und die Kaniden in ihrem Wahn beinahe vernichtet hätten. Und währenddessen töteten Menschen ihren erstgeborenen Sohn, und zuvor den besten Freund der Familie, der den jungen Mann mit dem Einsatz seines kanidischen Lebens zu schützen versucht hatte.
Den Krieg zu gewinnen, aber das Liebste zu verlieren, das war zu viel für Sarel. Ihr Geist zerbrach. Und Lôres, der noch so viele Söhne und Töchter zum Trost hatte? Er hatte um seinen Erstgeborenen getrauert. Aber er hatte ihn gehen lassen, wie es bei seinem Volk Brauch war. Ein anderes Leben würde kommen. Doch Sarel, sie wurde von der Trauer und dem Schmerz überwältigt. 
Der Wahnsinn hatte von ihr Besitz ergriffen, derselbe Wahnsinn, dem die Welt die Vampire verdankte, doch um ein Vielfaches düsterer. Niemand hätte geahnt, welch finsterer Samen an diesem Tag in ihrer Seele fruchtete. Nun schien es, als wäre sie zu einer Abscheulichkeit geworden, der Schrecken, den sein Orden und alle anderen Gilden abzuwenden versuchten.
Eine Azimaga, die in vollem Bewusstsein ihrer Schuld jedes Gesetz brach, das man aufgestellt hatte. Eine Geistesbegabte, die nicht mehr eins war mit der Welt, sondern einzig gegen sie. Sie war um ein Vielfaches schlimmer, als der Abtrünnige, den sie einmal in ihrer Jugend bezwungen hatten. Und sie war nicht allein. Die Verderbnis hauste bei ihr. Diesmal trug sie den Namen Kirtan.
Der Adept des Chaos war schon lange ein Adept der Verderbnis. Sie wollten es alle zunächst nicht wahr haben, sie hatten einen mächtigen Magier an ihrer Seite gebraucht, egal wie skrupellos, ungezügelt, machtgierig, unmoralisch oder pervers er im Lauf der Jahre auch geworden war. Die Welt hatte am Rand des Abgrunds getanzt und es war besser, ihn auf der eigenen Seite zu wissen als auf der anderen.
Lôres fragte sich nun immer wieder, warum er Kirtan damals nicht getötet hatte, als er noch die Gelegenheit dazu hatte. Hätte er einmal seiner Mordlust nachgegeben, wäre vielleicht manches Leid erspart worden. Doch er hatte sich dies nicht gestattet, und haderte nun mit sich selbst.
Kirtan und Sarel waren in die Wüste gegangen und dann ward nichts mehr von ihnen gehört. Man hielt sie für tot. Hundert Jahre lang dachte man das. Bis keiner der kurzlebigen Leute mehr wusste, dass es sie jemals gab. Bis alle, die sich immer noch an sie erinnern konnten, sie für nichts weiter als eine Erinnerung hielten. Mag sein, dass man im Osten einen Schrecken hatte erledigen können, den die Verderbnis über ihre Welt bringen konnte. Ihre Saat ging immer auf, immer und überall, und manchmal sogar in ihren bittersten Gegnern. 
Es war gut, diese jungen Abenteurer hinter der vor Liebeskummer und Zorn kranken Magierin her jagen zu lassen. Diese Geschichte war zu viel für sie, zu alt, zu mächtig, zu verderbt. Es war seine Beute und seine Jagd. Er würde morgen einen Nachfolger bestimmen müssen, weil er nicht damit rechnete, lebend wieder zurückzukehren. Sarel und Lôres und Kirtan. So hatte es begonnen, und so würde es enden.

Kala
Seit Wochen nichts als die Wüste des Ozeans um Kala herum. Nein, eigentlich stimmte es nicht, aber es fühlte sich so an. Das Handelsschiff der Handelsgilde von Kosian legte hin und wieder an Land an, zumindest dort, wo man sich sicher sein konnte, nicht in einen feindlichen oder räuberischen Hinterhalt zu geraten, aber an ihr gingen diese Tage vorüber als waren sie nur ein Traum.
Die Halbelfe war dankbar für ihre Einsamkeit auf See. Die Mannschaft ließ sie in Ruhe, sie fühlte offensichtlich deren Abneigung. Sie wusste, woher diese Einstellung kam. Sie konnten spüren, dass sie nicht einfach nur eine Elementarmagierin mit elfischen Vorfahren war. Instinktiv wussten sie, dass sie nicht länger eine von ihnen war. Ihr Bewusstsein war in der Tiefe der Pyramide unwiederbringlich seitwärts gerückt, in eine andere Ebene der Wahrnehmung und des Empfindens, und es gab keinen Weg mehr zurück. Aber das wollte sie auch nicht. Wohin auch, nun wo ihr geliebter Meister vernichtet war.
Der Kult von Anur trauerte um den Verlust der Stimme und pries den in den Tod aufgestiegenen treuen Diener zugleich. Sie wusste jedoch, dass Morel und Anur und sie selbst einen gänzlich anderen Weg beschritten. Der Wagemut der Menschen hat ihnen Türen geöffnet, die selbst die mächtigen und weisen Elweni nicht zu öffnen gewagt hatten. Es war ihr Weg hinaus aus dem Gefängnis des Seins, den das Schicksal für sie auserkoren hatte. Mochten die Elfen glücklich sein mit dem Platz, den sie in der Welt hatten, die Menschen hatten den ihren verloren. Doch jetzt gab es wieder Hoffnung.
Kala starrte auf die See und ihr Selbst einte sich mit den Wellen und den Winden um sie herum und sie war so glücklich wie sie nur in Morels Armen gewesen war. Mit diesen tobenden Mächten eins zu werden war ein herrliches Geschenk, und erst durch ihn hatte sie die Elemente so zu formen gelernt. Kein Unwetter würde ihren Weg kreuzen. Die Winde würden ihren mächtigen Segeln immer wohlgesonnen sein, ihre volle Pracht blieb entfaltet so lange wie sie über dieses Schiff wachte. Das war der Preis für ihre Passage und der Kapitän betete sie dafür an.
Bevor sie es bewusst wahrnehmen konnte, spürte sie die Änderung des Kurses in ihrem Leib. Es gab Augenblicke, in denen sie das Gefühl hatte, eins mit diesem herrlichen Schiff zu sein, nichts weiter als seine Galionsfigur, und im Drängen des Windes Morels Liebkosungen zu spüren. Würden diese Augenblicke doch nur länger dauern. Würde das Schiff doch weiter auf hoher See bleiben. Aber es ging nicht. In ihr geweitetes, beinahe aufgelöstes Bewusstsein drängte sich die Erinnerung daran, dass der Kapitän an diesem Tag einen Hafen der Harleke anlaufen wollte, um dort einige Waren zu verkaufen und neue aufzunehmen. Die Kriten dachten immer nur an ihren Profit. 
Sie spürte, wie die Gedanken an dieses profane Dasein ihr Bewusstsein schrumpfen ließen, zurück in diesen unbedeutenden, kleinen, wenngleich auch immer noch schönen Körper für eine Frau ihres Alters. Das Blut der Elweni, es hatte seine Vorteile. Sie war immer noch so jung und frisch wie damals mit siebzehn, und nicht langsam welkend wie eine Frau um über dreißig Jahre. So viele ließen sich von ihrer Jugend täuschen und unterschätzten ihre Erfahrung und Macht. Doch nun war es an der Zeit, sich eine Pause zu gönnen. Sie freute sich auf den Schlaf. Jede Nacht träumte sie von ihm, und sie wusste, dass es ein Zeichen war. Er wollte nicht, dass sie ihn vergaß. Er wollte, dass sie ihn zurückbrachte. Und sie würde die Welt aus den Angeln heben, um das zu erreichen.

Praveen
Die Fremden waren fort, alle bis auf ihn selbst, obwohl er sein Leben lang nie einen Fuß von der Insel gesetzt hatte. Der Kult von Anur trauerte und feierte um ihn herum, die Menschen interpretierten ihren Verlust schnell als Sieg um, und er war dabei ein Zuschauer wie schon seit langem. Nicht, dass es ihm in irgend einer Form leid tat. Er beobachtete gern, so wie jetzt, am späten Abend in der heißesten Jahreszeit von Temen’Sirra. Er hätte sein gesamtes Leben zusehen können, wie sich die Schönheit der Welt in jeder Kleinigkeit entfaltete. 
Nicht ohne Grund hatte sich seine Gabe in Richtung der leblosen und belebten Körper entwickelt und weniger in die machtvolleren Bereiche der Energie oder der Naturgesetze. Er war kein zerstörerischer Pyromant, nicht interessiert an Herrschaft über Raum und Zeit. Es genügte ihm, Dinge und Lebewesen wieder heil zu machen, besser zu machen. Wo der Handwerk und die gewöhnliche Heilkunst versagten, konnte seine Kunst helfen. So hatte auch er einen Platz in dieser Welt.
Doch nun war alles verändert. Seit diese Fremden die Insel besucht und alles auf den Kopf gestellt hatten, war alles für ihn anders geworden. Nein, er musste sich in dieser Hinsicht korrigieren. Seit er sein Bewusstsein mit dem des alten Elfen verschmolzen hatte, war alles anders geworden. Er fühlte immer noch Ehrfurcht, Angst und Ekstase zugleich, als er sich die Erinnerung zurückrief, und er wagte es nicht, seine Gabe zu nutzen und die Erinnerung erneut so zu durchleben, als würde sie sich eben erst ereignen. Es war einmal bereits beinahe unerträglich gewesen.
Keryon hatte gewusst, dass er in den Tod ging. Ihnen allen war klar, dass Morel sich nicht von seinem Weg abbringen lassen würde, selbst wenn man ihm den Wahnsinn seines Vorhabens vor Augen geführt hätte. Die Geistesbegabten hatten das alles schon mehr als einmal in den Jahrhunderten durchlebt, das letzte Mal beim Wechsel des letzten Millenniums, und jeder Versuch war bisher zum Scheitern verurteilt.
Die Verderbnis mochte nicht böse sein, aber sie war nicht vereinbar mit dem, was unter den beseelten Völkern als ‚gesunder Verstand’ - ob Menschen-, Elwen-, Kaniden- oder Tergen-Verstand - bezeichnet wurde. Der Wahnsinn hatte jeden früher oder später eingeholt.
Und nun wanderte Kala auf diesem Weg, und er hatte mit der Geistesverschmelzung mit ihr alles riskiert, und gehofft, sie würde ihn verstehen. Doch aus all den Erinnerungen des alten Elfen und seiner Vorgänger, die er mit ihr geteilt hatte, hatte sie sich ausgerechnet die herausgepickt, die sie auf einen gänzlich anderen Weg geleitet hatte. Hoffentlich machte sie keinen Fehler. Den alten Vampir anzugreifen würde ihr Tod sein. Oder was wollte sie von ihm, wenn nicht Rache?
Praveen seufzte. Er konnte nur warten und auf Nachricht von Seinesgleichen warten. Er hatte sie gewarnt und ihnen alles mitgeteilt, was er erlebt hatte und wissen konnte. Er hoffte, dass Kala es überlebte und irgendwann wieder nach Hause zurückkehren würde. Aus einem unerklärlichen Grund vermisste er sie. 

Elas
Blitze und Donner waren überall um sie herum. Es war ein höchst unnatürliches Spektakel, verursacht von einer einzigen Frau, die seit einiger Zeit nicht mehr sie selbst war, auch wenn man den Blutparasiten aus ihr entfernt hatte. Ihr Bewusstsein war fort, und die Kraft, die von ihr Besitz ergriffen hatte, tobte so frei und zerstörerisch, wie es ihr gefiel, und fokussierte all ihre Macht auf denjenigen, auf den Kala ihr Interesse, ihren Zorn und ihre Rache hatte fokussieren wollen. Sie hatte jedoch mehr gewollt, als den Vampir einfach nur zu töten, und in diesem Punkt war Elas sich mit ihr absolut einig. Skarin durfte nicht sterben, und solange sie an seiner Seite war, dann würde er auch nicht sterben. 
Sie lieh ihm seine Kraft, stärkte seinen Willen und wünschte, dass der andere Schüler Morels erfolgreich darin sein würde, die Gunst der Verderbnis von Kala auf sich selbst zu ziehen. Schließlich war er ein Geisterbeschwörer so wie Morel und Anur es gewesen waren. Sie wusste nicht, wie lange zwei alte Meister aus den Reihen der geistesbegabten Azimagi einer Naturgewalt trotzen wollten, egal wie mächtig sie auch waren. Sie wollte es nicht herausfinden. 
Mit dem Bruchteil ihrer Konzentration, der ihr noch geblieben war, suchte sie in Kala nach dem Funken ihres Selbst, um die Verderbnis zurückzutreiben. Es war schwer. Seit Wochen hatte sie sich mehr und mehr verloren. Aber da war noch etwas, brennende Gefühle, die nur zu Kala gehören konnten, weil Naturgewalten keine Gefühle haben. Es waren Liebe und Trauer und Sehnsucht und Begierde und so vieles mehr. Das Blut der Elweni war nicht so stark in ihr wie in manchen anderen Halbelfen, aber es reichte, um die Emotionen ebenso wie die magische Gabe zu stärken. Und das konnte Elas nutzen.
Sie hauchte diesen Gefühlen mehr Leben ein, verband sie mit ihren eigenen, auch auf die Gefahr hin, in Kala etwas zu entfachen, was in ihr nicht sein sollte, aber alles war besser, als der Vernichtung ihres Geliebten zusehen zu müssen. Wo Leben war, da war Hoffnung, und sie wollte nie, dass jemand vor seiner Zeit starb. Also schürte sie das Feuer der Liebe und des Wunsches nach Leben in Kala und spürte mit Erleichterung, wie die Macht der Verderbnis von ihr wich und ihre Gunst Dubrik zuwandte. 
Dies war der Augenblick, an dem die Kämpfer ihre Chance erhielten. Corrhen überwältigte Kala von hinten und seine Schülerin Arakii drückte ihr die Luft aus den Lungen, verhinderte die Atmung, bis die Magierin bewusstlos zusammensank. Und während Skarin sein Bewusstsein daraufhin umschwenkte, um Dubrik aus den verführerischen Fängen der Verderbnis zu lösen, nahm sie sich der Halbelfe an. Sie würde Hilfe brauchen und Anleitung und jemanden, der wusste wie es war, einen Mann zu lieben, der seit Jahrhunderten nicht mehr lebte und doch unter den Lebenden weilte. Elas hatte nie eine leibliche Schwester gehabt, aber vielleicht hatte sie soeben eine im Geiste bekommen.

Arakii
Die Gluthitze der ausgehenden warmen Jahreszeit wich der Kühle einer Wüstennacht, aber in Kosian merkte man nichts davon. Die Menschen machten sich bereit für die Feier der Erntezeit, und in der Perle der Wüste wurde besonders viel und besonders prunkvoll gefeiert. Dort gab es alles, was das Herz begehrte, und dort trafen sich alle, die es sich leisten konnten. Arakii war aus einem anderen Grund in der Stadt als die Feier. Und sie hoffte, sie würde nicht so lange bleiben müssen. 
Die Metropole inmitten des Wüstensands jagte ihr Angst ein mit den unübersichtlichen, verwinkelten Gassen auf der einen Seite und den breiten Prachtstraßen andererseits, mit den Unmengen von Menschen und anderen Völkern. Sie fiel nicht auf in dieser Stadt, zumindest nicht so sehr wie es in jeder anderen Menschenstadt gewesen wäre, aber gerade das erschien ihr auf einmal unheimlich. Die Menschen bemerkten, dass sie anders war als alle anderen Leute, die sie kannten, aber sie taten es mit einem Schulterzucken ab. Wer weiß, vielleicht hatte ein Magier sie geschaffen oder so geformt. Ihnen war nicht klar, woher sie wirklich stammte, und es war gleichzeitig beruhigend und verstörend.
Sie konnte nicht schlafen in ihrem Bett, wie immer. Sie schlief drunter, in die Decke gewickelt. Sie wusste, dass es Unsinn war und sie vermutlich in einem der sichersten Häuser der Welt Unterkunft hatte, aber jedes Mal, wenn sie auf einem Gestell aus Holz auflag musste sie an ihren Vater denken, der sie auf eine höchst brutale und qualvolle Weise seinem Gott hatte opfern wollen.
Sie, die einzige richtige Tochter ihres Volkes, das ansonsten auf das Rauben von Menschenfrauen angewiesen war um nicht auszusterben, sie hatte sterben sollen. Und wenn sie in einem Bett schlief, dann träumte sie, wie sie nackt, mit Blut und merkwürdigen rituellen Farben bemalt, auf einem hölzernen Altar gefesselt lag, benebelt von den Drogen, die ihr Vater, der Schamane ihres inzwischen ausgelöschten Klans, ihr eingeflößt hatte. 
Erst da hatte sie begriffen, dass er sich nicht wie üblich einfach nur an ihr vergehen wollte, weil alle Frauen des Stammes sein Eigentum waren. Und als sie begriffen hatte, was er hatte tun wollen, da war sie nicht mehr in der Lage gewesen, um ihr Leben zu kämpfen. Sie hätte es gekonnt, sie trug die Stärke und Wildheit der Araks in ihren Adern, doch nicht so.
Es musste andere Götter geben als den ihres Vaters, oder er hatte das Opfer nicht annehmen wollen. Vielleicht war sie sogar sein Geschenk an seine Leute gewesen, aber sie waren zu dumm gewesen, um es zu begreifen. Nun würde sie alles daran setzen, sie auszurotten. Sie waren eine Plage, und sie würde nicht wollen, dass diese Plage sich ausbreitet. 
Der Vampir ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie er sie angesehen hatte, voller Neugier und Interesse. Als wäre sie ein Tier, das er erforschen könnte. Oder hatte sie sich das nur eingebildet, weil Corrhen Vampire nicht leiden konnte? Sie wollte ihren Retter und Lehrmeister nicht in Frage stellen, aber ihre Welt war innerhalb weniger Monate so groß und so unüberschaubar geworden, dass sie nicht mehr wusste, was richtig oder falsch war. Sie folgte seiner Leitung, und sie lernte, und sie wusste, dass sie als Arak-Schlächterin in die Geschichte eingehen würde. 
Irgendwo draußen knallte ein Feuerwerk. Irgendjemand probte wohl schon für die großen Tage. Sie zuckte zusammen, als ihr eine geisterhafte, eingebildete Rauchschwade in die Nase drang und sie statt eines Feuerwerks an die Abscheulichkeiten denken musste, die irgendwo da draußen waren und zu keinem anderen Zweck existierten, als mit Feuer und blutigen Klauen zu töten. Es gab zu viele Ungeheuer auf dieser Welt.
Vielleicht war sie sogar eines davon. Manche Kinder begannen zu weinen, wenn sie in ihr Gesicht blickten. Sie wollte nicht daran denken. Sie würde nie unter Menschen leben können und sie sehnte sich zurück in den Wald, den Dschungel im Osten, zurück in ihre Heimat, um dort ihrem Schicksal zu folgen. Bald würde sie ausgelernt haben. Vier Jahre noch. Endlich war ein beruhigender Gedanke in ihrem Kopf und sie dämmerte weg.

Lason
Die Stadt taumelte vor Vorfreude, wie jedes Jahr, wie bei jedem Fest. Das war etwas, was der Junge an diesen Menschen mochte. Die Leute von Kosian waren die Besten. Sie waren auch die Schlimmsten, er konnte nicht die Augen davor verschließen, schließlich hatte seine Mutter ihn einfach weggegeben, aber sie waren dennoch die besten unter allen Menschen. Er konnte es sagen. Mit seinen knapp zwölf Jahren hatte er schon mehr von der Welt gesehen als die meisten anderen. Es hatte seine Vorteile, ein Ferchiro zu sein, genauso wie es auch seine Nachteile hatte.
Lason freute sich auf das Fest, aber er vermisste auch sein Zuhause. Er hoffte, seinen Lehrmeister Dubrik überzeugen zu können, noch etwas länger in dieser Stadt zu verweilen – so lange, bis die "Zugvögel" und sein Vater wieder zu ihnen stoßen würden. Noch waren sie weiter im Norden unterwegs, aber dort waren die Blätter sicherlich schon bunt und die Nächte immer kälter und kälter und der Regen stritt sich mit der Sonne um die Vorherrschaft über den Himmel. Sie waren wie jedes Jahr bei den Erntefestlichkeiten in der Gegend um Poliaron, und würden dann weiterreisen in Richtung Kosian, um rechtzeitig zu den großen Festlichkeiten zum Jahreswechsel vor Ort zu sein.
Es würde nicht einfach werden. Der Berserker Corrhen, der Weggefährte und alter Freund seines Lehrmeisters, hasste diese Stadt, er hasste ihren Gastgeber und übernachtete lieber in irgendeinem Gasthaus als im großen Anwesen des Vampirs. Er wollte so schnell wie möglich wieder zurück in seine vertraute Kälte, und Lason konnte es ihm nicht einmal verübeln. Nicht jeder konnte überall und zugleich nirgends zuhause sein.
Elas, die elfische Gefährtin des Vampirs faszinierte Lason, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Sie war eine der mächtigsten Geistesbegabten ihrer Zeit. Ihre Ausstrahlung war so kraftvoll, dass er jedes Mal das Gefühl hatte, er müsste vor ihr auf die Knie fallen, aber das hätte sie nie gewollt. In all dem Durcheinander hatte sie ihn nur einmal angesehen und sie hat gelächelt, so voller Liebe und Freude, als wäre er das einzige Kind auf der ganzen Welt und sie sehr glücklich darüber, einen Blick auf ihn geworfen zu haben. Und es war echt gewesen, nicht gespielt. Er war ein fremdes Kind für sie, aber sie hatte ihn genauso angelächelt, wie die Frauen der "Zugvögel", in denen er seine Familie sah.
Da merkte er, dass er Heimweh hatte nach den Wägen und Zelten seiner Familie und irgendwie auch nach der Wohnstatt seines Meisters. Ob der untote Diener noch immer seine Arbeiten verrichtete, wie Dubrik es ihm mit seiner Magie aufgetragen hatte? Das wollte Lason so gerne eines Tages lernen, und wenn es nur dazu dienen würde, ein richtiges Puppentheater aus Knochen aufzubauen. So etwas hatte ganz bestimmt keine Schaustellertruppe zu bieten. 

Das Fest in Kosian
Fünf Tage würde das Erntefest dauern, wie überall in den Landen der Menschen, auch wenn in der Wüste um Kosian selten etwas geerntet wurde. Hier feierte die Handelsgilde die Goldernte des vergangenen Jahres, die immer wieder üppig ausfiel, trotz aller Widrigkeiten. Die Welt hatte den Schrecken der Krieges vergessen und lebte nun wie es ihr gefiel.
Wie es in Kosian Tradition war, würde das Haus der Dragons die Feierlichkeiten eröffnen, mit einem Feuerwerk genau zur Mitte der Nacht, genau über der Oase, die sie damals für sich eingenommen hatten und um die herum nach und nach die Stadt gewachsen war und von der aus die Dragons das Land unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Räuber und Abenteurer waren sie einst, doch mit der Zeit hatten sie sich gewandelt, und wurden zu Herrschern über die sich nur wenige beklagen konnten.
Sie sorgten dafür, dass das Wasser in ihrer Stadt gerecht verteilt wurde. Sie sorgten dafür, dass die Regeln eingehalten wurden, auch wenn viele spotteten, dass es so viele Regeln in Kosian gar nicht gab. Und sie waren auch diejenigen, die ihren sagenhaften Reichtum nutzten, damit keiner in den Straßen Kosians verhungerte, egal wie bettelarm er auch war.
Das Haus von Skarin Dragon, dem Vampirahnen und der grauen Eminenz der Adelsfamilie, war inzwischen so voller Leben, wie es sonst selten war. Viele seiner untoten Nachkommen waren dort, so wie Alexandrita, seine jüngste Tochter im Blute. Aber sie waren nur ein kleiner Teil der zahlreichen Gäste auf dem Anwesen. Etliche Elweni waren unter ihnen, darunter alle Ferchiri, die in Kosian lebten, ein großer Teil derer, die einen reisenden Lebenswandel pflegten, und sogar einige wenige der sogenannten Hochelfen, die kaum noch ihre verzauberten Inseln im Westen verließen. Der Magier Alion würde sie besuchen, sein Sohn Jerel und die Tochter Avela, deren beider Mutter Skarins Gefährtin Elas war.
Skarin konnte nicht anders, als grinsen, jedes Mal wenn er den anderen Mann im Leben seiner Gefährtin in seinem Haus empfing. Seinem Schöpfer hatte er vor Jahrhunderten mal gesagt, er könnte vielleicht eines Tages so werden wie ein Elf, und seine Worte hatten ihn eingeholt. Jeder Besuch von Alion erinnerte ihn daran, an Erlen und die verworrene Zeit der Jugend, die so lange zurücklag.
Beide wetteiferten spielerisch um die Gunst der Frau, von der sie wussten, dass sie beiden zu gleichen Teilen zukommen würde. Was für die ehrbaren Menschen außerhalb Kosians ein skandalöses Dreieck war, und für die weniger ehrbaren Menschen Kosians ein pikanter Quell von aufregenden Spekulationen, war für die Elweni und den Vampir etwas vollkommen normales. Aber sie verloren sich ohnehin im Flirren der anderen Leute um sie herum.
Da waren Elweni verschiedenster Art, aus allen Ecken der Welt. Diejenigen, die einst in den Wüstenstädten des Elfenreiches Elorazon gelebt hatten, sie schienen mit dem Sand und der Steine ihrer Heimat verschmelzen wollen. Ihre Haut und Haare hatten Töne von schimmerndem Sand über die verschiedensten braunen, roten und grauen Töne von verschiedenen Erden und Gestein, bis hin zum tiefsten Schwarz. Ihre Augen glimmten wie Edelsteine in allen Farben des Welt, wie es bei den Elweni schon immer war, oder waren so schwarz wie die mondlose Nacht.
Die Ferchiri des Nordens dagegen wiesen viel mehr grüne oder blaue Töne in ihrer Haut und ihren Haaren auf, so dass sie oft mit den Wäldern dieser Gegenden verschmolzen, oder in ihren Flüssen und Seen unsichtbar wurden, wenn sie dort wie gewohnt ohne eine Faser auf dem Körper badeten und schwammen. Aber die Elweni waren nicht die einzigen Gäste des Hauses Dragon.
Die Ke’Sha und die Kravek der umliegenden Gegenden waren ebenso stets im Hause Dragon willkommen. Sie hatten im letzten Krieg den Menschen geholfen, ihre Stadt und Heimat zu verteidigen, weil diese Menschen ihre Heimat mit den Heimatlosen geteilt hatten, und seitdem waren diese drei Völker so eng miteinander verbündet, wie die Menschen und Elweni es vor dieser Zeit waren.
Das seidige Fell der Ke’Sha schimmerte im Licht der Kerzen und magischen Leuchter, ebenso wie ihre bernsteinfarbenen und smaragdgrünen Katzenaugen, die als einziges die Bewohner von offenen Ebenen und Wäldern voneinander unterschieden, während die Zeichnungen auf dem Fell die Stämme genauer kennzeichneten.
Dazwischen sah man immer wieder die schwarzen Augen der rattenähnlichen Kravek aufblitzen, deren Streiche man hier freudvoll erwartete und gleichzeitig auch fürchtete, die im Nachhinein jedoch stets ein Quell der unterhaltsamsten Geschichten waren. Selbst der Hausherr und seine Gefährtin waren davor nicht sicher, aber das störte sie nicht im geringsten. Es war ein Fest, und die Kravek genossen dort ihre Narrenfreiheit.
Bereits am Vorabend der Festwoche war das riesige Herrschaftshaus, das sonst so gut wie verlassen wirkte, voller Leben. Arakii und Lason beobachteten die Ankunft der Gäste aus ihren Verstecken auf der nach oben führenden Treppe heraus – er wollte nicht stören, sie wollte nicht gesehen werden. Sie sahen die Ankunft des Elweni-Botschafters und seiner beiden Kinder. Lasons Augen funkelten vor Begeisterung, weil er noch nie einen der zurückgezogen lebenden Hochelfen gesehen hatte, und nun waren es gleich drei auf einmal!
Ihre Gewandung schien aus Magie selbst zu bestehen. Magie umgab diese Wesen wie das Licht die Sonne umgab, und war Teil ihres Alltags ebenso wie es für Menschen das Atmen war. Und obwohl die magische Gabe des Jungen sich kaum auf den Fluss astraler Energien fokussieren ließ, sondern vor allem den Dingen des Todes zugewandt war, konnte er spüren, wie der Äther durch sie hindurchfloss und zu jeder Zeit ein Teil von ihnen war.
Und was ihm gleichzeitig bewusst wurde, seinen Atem stocken ließ und tief in seinem Inneren ein Feuerwerk aus berstenden Eiskristallen und glühenden Flammenfunken entfachte – sie waren der lebenden Unsterblichkeit so nahe wie kein Lebewesen es vor ihnen geschafft hatte. Er konnte den Griff des Todes, den er selbst bei den gesündesten Lebewesen erkennen konnte, nicht an diesen drei ausmachen. Es war herrlich und entsetzlich zugleich. War das etwa das große Geheimnis, das die Hochelfen vor den anderen Völkern hüteten?
Arakii hatte nur Augen für den jungen Elwen, und sie verfluchte sich dafür. Er war schön, aber er war mehr als das. Wie ein wildes Tier es instinktiv spüren konnte, so fühlte sie, dass er sie mühelos im Kampf besiegen können würde. Er mochte nicht so stark sein wie sie, aber sein wahres Alter machte sich in seinem Blick und seinem Auftreten bemerkbar. Wie war das möglich?
In der Zeit, in der sie mit ihrem Retter und Lehrmeister unterwegs gewesen war, hatte sie ein wenig über die Geschichte dieser großen Welt gelernt und auch über die Gründe, die aus den einen Elfen reisende Vagabunden und Streuner, und aus den anderen Elfen zurückgezogene Geheimniskrämer gemacht hatten. Sie haben es aufgegeben, den anderen Völkern ihre helfende Hand zu reichen, und haben sich von ihnen abgewandt. Und dennoch war, als Corrhen ihr Leben rettete, auch ein Elwen da gewesen, um dem Kaniden beizustehen. Diese Leute waren ein lebender Widerspruch und ein Rätsel.
Ihr musternder, forschender Blick war nicht ohne Spuren an ihm vorbeigezogen. Er sah in ihre Richtung, sah sie an, erkannte sie, und grinste mit einem schelmischen Blick in den Augen. Arakii erstarrte, weil sie diesen Ausdruck nicht zu deuten vermochte. Was sollte dieses Grinsen? Was sollte dieses Zwinkern? Sie starrte direkt in seine Augen hinein, als ob es hier um eine Kraftprobe ging. Sein Grinsen wurde zu einem Schmunzeln, und er senkte den Blick mit einem Nicken. Und dann war der Augenblick vorbei und die Elfen waren vorübergezogen, als wären sie nur Schatten im Wind.
Der Klang der Hufe auf dem Marmorboden kündigte den nächsten Gast an. Lason kicherte innerlich vor Freude. Wo Satyren waren, dort war die gute Stimmung sicher, und dieser Satyr sah so aus, als ob er mit aller Art Freuden bestens vertraut war. Lason biss sich auf die Unterlippe. Es hätte sogar der König aller Satyre sein können, wenn sie sich mit so etwas mühsamen wie einer Hierarchie abgeben würden. Und er war das genaue Gegenteil der ätherischen Hochelfen. Seine physische Präsenz war überwältigend. Lason war sich dessen nicht bewusst, aber etwas tief in ihm war erleichtert, dass er noch ein Kind war.
Arakii musterte den sogar für einen Satyr großgewachsenen Hühnen und stellte verwundert fest, dass sich in ihm wohl ebenso verschiedene Blutlinien mischten, wie es über Magie und Gewalt mit ihren Vorfahren und ihr selbst geschehen ist. Während die Araks von ihrem Schöpfer als ebenbürtige Gegner zu den in sein Land einfallenden Kaniden geschaffen wurden und in gewisser Weise eine Parodie und eine Hommage an dieses kriegerische Volk waren, war in der körperlichen Gestalt des Satyrs einerseits eindeutig ein Kaniden-Ahn abzulesen, dem er wohl seine Größe verdankte, als auch Spuren elfischen Bluts über die vergleichsweise eleganten Gesichtszüge, die weitaus weniger an die harten, robusten Kaniden-Gesichter erinnerten.
Unerwartet vermischten sich die Merkmale von Kanide, Elwen und Satyr auf eine sehr harmonische Weise in diesem Körper miteinander, so dass er trotz der für die meisten Menschen abscheulich und durch und durch verderbt erscheinenden Bocksbeine und Hörner von einer animalischen Schönheit war, die ihresgleichen suchte. Sie dagegen wäre wohl ein hübsches Menschenmädchen geworden, wenn sie denn auch einen Menschenvater gehabt hätte. So aber spürte sie instinktiv, dass die Menschen sie als hässlich wahrnahmen. Sie war froh, von einem Kaniden gefunden worden zu sein. Er wusste ihre Vorzüge als Berserker-Kriegerin zu schätzen und machte sich nichts aus ihrer Erscheinung.
Der Satyr gab der Herrin des Hauses einen ebenso innigen Kuss wie der Vater ihrer Kinder zuvor, und umarmte mehr als nur herzlich den Gastgeber. Sie wechselten einige leise Worte – so sehr Lason oder Arakii ihre Ohren spitzten, sie konnten einfach nichts belauschen – und trennten sich bald darauf, wohl lachend über einen Witz. Der Satyr verweilte einen Augenblick länger in der Empfangshalle als nötig, sog langsam und genüsslich die Luft in seine Nase und lächelte dann, als ob er etwas Interessantes eingefangen hätte.
Aber es sollte nicht der letzte interessante Besucher werden. Die Luft füllte sich mit dem Zirpen von fremdartigen Kerbtieren - welche, die selbst Arakii nicht kannte, und in den Dschungeln ihrer Heimat gab es eine Vielfalt an allen erdenklichen Käfern und Spinnen und Tausendfüßlern und jede Art von kleinen Lebewesen, die man nicht anders als Plagegeister und Ungeziefer benannte. Arakii verstand nicht, was sie da hörte, sie lauschte jedoch fasziniert der vielschichtigen Melodie, die in ihrem Inneren eine faszinierende Mischung aus Ruhe und Erregung formte, eine die sie bisher noch nie gekannt hatte.
Lason erkannte, von welcher Art die Gestalt war, als er sie - ihn - es - erblickte. Es war eine zierliche Person, nur einen Kopf größer als er selbst es war, von einem eigenartig androgynen, fließenden Körperbau mit langen, schlanken Gliedern und Fingern, die an Spinnen denken ließen. Doch was die Person eindeutig als eine Botschafterdrohne der T’Skirt’Tsch auswies, das war ihr unverwechselbarer Kopf mit zwei Facettenaugen, die sich wie Schalen über die Stelle stülpten, an der bei den Menschen Augen sitzen würden und die Vampire mit ihren Sonnenbrillen bedeckten. Und dann waren da noch die schlanken, äußerst beweglichen und empfindsamen Insektenfühler auf der Stirn des Besuchers, die ein eigenartiges Ballett aufführten, während der-die-das Gesandte sich fließend vorwärts bewegte wie ein Geist.
Das makellose, androgyne, wie von einem Bildhauer geformte Gesicht, dessen Haut wie Perlmutt schimmerte, lächelte sanft und der Körper vollführte eine anmutige Bewegung, die bei den auf ihrer Welt gestrandeten Neuen Völkern als Zeichen höchster Ehrerbietung galt. Der-die-das Gesandte war tatsächlich als ein Neutrum im Hause des Gastgebers angekommen und würde sich erst nach seiner Nachtruhe für ein Geschlecht entscheiden. Davon hatte Lason schon einmal gehört, und es hieß, dass sich die Gesandten dies nur im Fall der engsten Vertrauten erlaubten, die ihnen so nahe standen wie die anderen Drohnen ihres unterirdischen Reiches.
Es berührte sanft mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand die Fingerspitzen des Vampirs, und wiederholte dieselbe Geste mit der Hand der Elfe, um ein wenig breiter zu lächeln, sich zu verbeugen, und ins Innere des Hauses zu entschwinden. Skarin und Elas wechselten wortlos, aber lächelnd die Blicke. Lason konnte kaum sein Glück fassen, dass er tatsächlich so etwas zu sehen bekam. Arakii wunderte sich nur über die seltsame Kreatur, die menschliche Gewänder aus ihrer Heimat trug so wie manche Araks sich die gegerbte Haut ihrer Opfer überstreiften.
Das Gelächter kündigte die nächsten Gäste an, die wie die Hochelfen zuvor als Gruppe erschienen - nur weitaus weniger würdevoll, dafür umso ausgelassener. Diese Sorte Wesen kannte Arakii bereits von ihren Reisen mit Corrhen, und Lason kannte sie auch. Es waren mehrere Ke’Sha, allesamt aus dem Wüstenstamm, deren einziger Lebenszweck der zu sein schien, den verbissenen Melsoms ein Dorn in ihrem Fleisch zu sein und die ewige Versuchung. Eine Frau ging voran, eine stolze, wilde Schönheit mit wallender Mähne und peitschendem Löwenschwanz, und drei männliche Kämpfer folgten ihr. Sie trugen ihre Kampfnarben stolz auf der Haut ebenso wie die Zeichen ihrer Stammeszugehörigkeit.
Wie selbstverständlich begrüßte die Ke’Sha Frau die Elfe zuerst, und wandte sich erst dann dem Gastgeber zu, mit einer gespielten Miene der Herablassung, durchwirkt von einem spielerischen Schmunzeln. Bei den Ke’Sha herrschten die Frauen über die Männer, aber auf eine andere Weise, als die Königinnen der T’Skirt’Tsch es bei ihren Völkern taten. Die Frauen der Ke’Sha beherrschten jede ihrer Waffen in Perfektion - ihre Krallen, ihre List und ihre verführerische Schönheit. Doch der Vampir wirkte so, als ob ihm keine dieser Waffen jemals gefährlich werden könnte, und möglicherweise war das der Grund für den Respekt, den die Ke’Sha ihm entgegenbrachte.
Ihre Männer dagegen, sie waren offensichtlich Auserwählte. Disziplin und Selbstbeherrschung war nicht die Stärke, die man den Männern der Ke’Sha nachsagte. Diejenigen, die einen Satyr für den Gipfel der Zügellosigkeit und einen Werwolf für die Verkörperung der Grausamkeit hielten, würden von einem Ke’Sha-Mann in beiden Fällen eines Besseren belehrt werden. Doch diese drei, sie waren allesamt so ruhig und besonnen, als würde jemand anderes in ihrer Haut stecken. Und einer von ihnen sah Lason an, gerade als dieser sich dieser Erkenntnis bewusst wurde, und zwinkerte ihm zu. Es war also zumindest ein Geistesbegabter unter ihnen, was einiges erklärte.
Als die Ke’Sha sich nach der Begrüßung entfernten, um sich in ihre Gastgemächer zu begeben, wirkte es für einen Moment so, als wären das die letzten Gäste des Abends gewesen. Doch gerade als Lason und Arakii den Gedanken zu erwägen begannen, es wäre vorbei, war es das doch nicht. Sie waren sich beide nicht sicher, ob sie diesen letzten Gast hatten sehen wollen, aber die Neugier siegte über die Vernunft.
Es schien, als ob das Licht seine Strahlkraft verlor, als sie das Rascheln der Gewänder hörten. Und dann verlor sich auch dieses Rascheln wie im Nebel. Eine einsame Gestalt erschien vor dem Gastgeber und seiner Gefährtin, vermutlich ein hagerer Mann, unter der Kutte war mehr nicht auszumachen. Das Gesicht des Vampirs wurde ernst, und er nickte einfach nur. Die Elfe öffnete leicht ihre Lippen, als ob sie etwas sagen wollte, aber sie konnte es offensichtlich nicht. Dann reichte sie der Gestalt die Hand, und eine in Bandagen gewickelte Klaue ergriff die zarten Finger der Elfe, um sie im Zuge einer Verbeugung zu einem Handkuss zu führen.
Ein Schatten legte sich auf das Gesicht der Elfe, als ob ihr etwas die Kraft rauben würde, doch sie lächelte einfach nur als sich ihre Hand wieder von der des unheimlichen Fremden löste. Warum würden sie so jemanden einladen wollen, fragte sich Lason. Warum nahmen sie beide das hin, fragte sich Arakii. Und genau da drehte die Gestalt ihren Kopf und schien erst ihn und dann sie genau gesehen zu haben.
Lason spürte einen süßen Schmerz in seinem linken Schenkel, genau da, wo auf der Innenseite eine Arterie verlief. Er spürte sein Leben verrinnen unter den Fängen eines Vampirs und konnte nicht sagen, ob es sein Ende war oder ein Neuanfang. Den eigenen Tod zu deuten konnte nicht einmal ein Mertomag, und er war noch kein Zauberer, sondern nur ein Schüler. Er spürte nur, dass es unausweichlich war, und etwas Düsteres lag in dieser Vorahnung.
Arakii dagegen wurde von der Übelkeit erfüllt, die ihr wohl bekannt war. Ihren eigenen Körpergeruch, den Schweiß ihres Sparringspartners im Training, das konnte sie gerade noch ertragen. Doch wann auch immer sie einen anderen Mann schmeckte oder roch, konnte sie nur daran denken, was ihr Vater und sein Stamm ihr angetan haben, und genau das kam erneut in ihr hoch.
Warum auch immer Corrhen den Vampir töten wollte, das wusste sie nicht. Warum sie diesen Fremden töten wollte, war ihr sonnenklar. Genau da hörte sie ihn kichern, bevor er entschwand.
„Er ist hierher gekommen, Liebster“, hörten sie die Elfe hauchen, als der Mann entschwunden war. „Kirtan ist hierher gekommen, ohne Sarel. Und wo ist Lôres dann? Ich... ich kann ihn nicht spüren.“
Das Gesicht des Vampirs war eine steinerne Maske: „Weil er bei ihr ist, und vom Jäger zum Opfer geworden ist. Doch wir haben keine Wahl, als dieses Spiel zum Ende zu spielen. Ich werde nicht das Wohl meiner Gäste, dieser Stadt oder sein Leben aufs Spiel setzen nur aus einer... alten Fehde heraus.“
Sie zog ihre Augenbrauen zusammen: „Es ist keine alte Fehde, und das weißt du genau. Sie... sie sind abscheulich, und sie sollten vom Angesicht dieser Welt getilgt werden. Wir haben uns nur zu bereitwillig täuschen lassen.“
Er rollte mit den Augen: „Wir hatten etwas Ruhe dringend nötig, die ganze Welt hatte etwas Ruhe dringend nötig. Selbst diese vermaledeiten Melsoms haben es verdient, endlich einmal zur Ruhe zu kommen. Und diese beiden, sie lassen niemanden zur Ruhe kommen, nur wegen einem einzigen Opfer. Wie dem auch sei, ich werde mir von ihm nicht mein Fest vermiesen lassen, Liebste, und du solltest es auch nicht. Wir werden sein Gift im Zaum halten, und wir werden tanzen, allem zum Trotz. Habe ich nicht recht?“
Mit einem verwegenen Lächeln, das er über die Jahrhunderte aus der Zeit seines sterblichen Lebens als jüngster Prinz von Kosian gerettet hatte, nahm er ihre Hand. Ihre Sorge und ihr Zorn schmolzen dahin und sie zog ihn an sich, in einen innigen Kuss.
Lason krabbelte aus seinem Versteck und war wenig überrascht, Arakii aus ihrem erscheinen zu sehen. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, und er antwortete mit einem Nicken. Es braute sich tatsächlich Unheil zusammen.

In den Klauen der Vergangenheit
Als Lôres zu sich kam war es finster um ihn herum. Doch dies hätte ihn nicht gestört. Viel unangenehmer war das Gefühl, vollkommen allein auf der Welt zu sein. Dieses Gefühl hatte er schon beinahe vergessen. Über hundert Jahre war er schon ein Azimag, ein Geistesbegabter, und keiner von ihnen war jemals allein. Das Erwachen hatte seine Einsamkeit ausradiert, und nun war sie zu ihm zurückgekommen und verursachte einen Schmerz, wie ihn nur ein Krüppel kannte – Phantome von etwas, das einmal da, und nun unwiederbringlich verloren war.
Nur eines konnte er überall um sich herum spüren – unendlich weite Massen von totem Gestein, vollgesogen mit dem Blut längst toter Wesen, erfüllt von ihren verstummten Schreien der Wut, der Enttäuschung, der Angst und der Trauer. Es schien eine der tiefsten Tiefen im Herzen des untergegangenen Reiches der Terge zu sein, ein Ort, den selbst die größten Fanatiker unter ihren Bewahrern wohl aus guten Gründen mieden. Einer dieser Gründe war verantwortlich für seine Anwesenheit an diesem finsteren Ort.
Als er sie sah war er auf einmal froh darum, nur sich selbst zu spüren und niemanden sonst. Er hatte sie einmal geliebt. Er hätte sie auch weiterhin lieben können, doch sie war verloren – verloren für ihn, verloren für ihren Orden und verloren für die ganze Welt. Ihre wunde Seele würde nicht heilen, weil sie es sich selbst verweigerte. Aber das war nicht das Schlimme. Das Schlimme war, dass sie ihm eine Falle gestellt hatte, und er war hinein getappt wie ein blinder Anfänger. Doch es wäre unehrenhaft gewesen, jemand anderes in seine Falle zu schicken, insofern würde er zumindest voller Ehre verlieren.
Sarel saß auf einem Stein und lächelte ihn an. Sie trug keine Kleidung, die ihren immer noch makellosen Körper hätte bedecken können. Allein ihre langen, glatten, schwarzen Haare umflossen ihre bleiche Gestalt. Ihre Augen blickten ihn an als wären sie blind, das Goldgelb der Iris war ausgebleicht und kaum noch vom Weiß des Auges zu unterscheiden. Nur die schwarze Pupille war so dunkel wie gewohnt und verursachte ein unangenehmes Gefühl in ihm, als würden sich ihre Blicke direkt in ihn hineinbohren. Sie wirkte nicht lebendiger als die Untoten, und doch war sie trotz allem immer noch schön.
„Warum bin ich hier?“, fragte er sie. Er wollte seine Gedanken nicht zu ihr aussenden, wollte nicht, dass ihre Seelen einander berühren wie früher. Er hatte Angst davor, was passieren würde. Sie war verseucht, bis ins Innerste ihres Selbst.
Sie lächelte charmant und geheimnisvoll, so wie sie es immer getan hatte. Nun wirkte es auf ihn wie die Fratze einer Katze, die mit einer Maus spielte, bevor sie sie tötete. „Du wirst mir meinen Novel wieder zurückgeben, Liebster.“
Er zog die Augenbrauen zusammen. Dass sie vor Kummer wahnsinnig geworden war, das war ihm schon lange klar, das war der Grund gewesen, warum sie verschollen ging. Doch er hatte offensichtlich keine Ahnung gehabt, welche Ausmaße dieser Wahnsinn annehmen würde.
„Das ist nicht möglich, und das weißt du. Wenn dein... Kirtan es mit seiner Magie nicht vermocht hat, kann ich dir erst recht nicht helfen. So etwas tun wir nicht.“
Er legte all seine Willenskraft in diese letzten Worte. Tote zurückbringen nach einer so langen Zeit, das war Blasphemie. Es war eines der wenigsten Dinge, für die ein Elwen dieses überaus menschliche Wort jemals gebrauchen würde. Das ging weit über die Praktiken der Nekromanten hinaus, Untote zu erschaffen, und noch viel weiter über die begrenzten Gaben der Heiler und Geistesbegabten hinaus, vergleichsweise kürzlich verstorbene Wesen wieder ins Leben zu holen.
Novel war seit über einem Jahrhundert tot, seine Seele lebte inzwischen möglicherweise sein drittes Leben. Niemand auf der Welt hatte das Recht, sich in diesen Lauf des Schicksals einzumischen.
Sie lächelte weiterhin und sprach zu ihm wie zu einem begriffsstutzigen Kind: „Wir könnten es aber tun, mein Liebster. Unserer Macht sind keine Grenzen gesetzt außer derer, die andere oder wir selbst uns aufzwingen. Und diese Grenze zwingen wir uns selbst auf, und niemand sonst.“
Er knurrte: „Du solltest es besser wissen. Er könnte jetzt glücklich sein, wo auch immer er ist. Willst du es zerstören, nur deinetwegen?“
Sie schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie wieder, und ihr Lächeln erstrahlte heller: „Er war auch glücklich, als er bei uns war. Es könnte alles so werden wie früher.“
Er schüttelte den Kopf: „Niemals. Ich werde dir nicht bei diesem Wahnsinn helfen. Er ist nicht unser Eigentum!“
Da schwand das Lächeln von ihrem Gesicht und ihre Augen verengten sich: „Du hast so leicht reden, mit deinem Rudel voller Mischlinge und Bastarde... aber meinen einzigen Sohn, den hast du vergessen!“
Ein Teil seines Selbst weinte aus Trauer darüber, was aus ihr geworden war. Doch ein anderer war erleichtert. Wenn dies ihr neues, wahres Gesicht war, dann würde es ihm leichter fallen, die Konsequenzen aus all dem zu ziehen. Sie war wütend auf ihn? Er würde ihr zeigen, was wahre Wut wirklich bedeutete.
Lôres trug die Bestie schon so lange in sich, dass er sich nur dank seiner Gabe an die Zeit davor erinnern konnte. Er wurde mit dieser Seuche infiziert, da war er noch ein junger Krieger, frisch entlassen aus der Gildenakademie, auf seiner ersten Mission zum Schutz der Heimat unterwegs. Er war der einzige gewesen, der den Kampf lebendig überstanden hatte, aber für das Überleben hatte er einen hohen Preis gezahlt.
Nun spürte er sie wie ein ständiges Fieber in seinen Gliedern, insbesondere in der Finsternis der Nacht, und auch in dieser Finsternis hier unten, unter der Erde. Sie wollte frei sein, wollte Fleisch und Blut um sich zu nähren, wollte Angst und Schmerz um sich zu ergötzen, und wollte dies vor allem jetzt.
Er hatte sie schon lange nicht mehr herausgelassen. Als Fürst einer Domäne hatte er meist andere Dinge zu erledigen, als direkt in den Kampf zu ziehen. Und sein persönlicher Zorn auf die Frau, die alles verraten hatte, was ihm, seinem Orden und seinem Volk so wichtig war, der feuerte die Bestie noch weiter an. Er hasste, was aus ihm geworden war, aber möglicherweise hatte alles einen tieferen Sinn, der ihm verborgen blieb. 
Wäre er jetzt ein anderer, er wäre ihr wohl schutzlos ausgeliefert gewesen. Sich ihr mit allen Mitteln zu widersetzen, auch wenn es seinen Tod bedeutete, das war das einzige, was er nun tun konnte. Ihr nachzugeben hieße, seinen toten Sohn wahrhaftig zu verraten und zu verkaufen. Sein Körper schrie auf vor Schmerz, als die Bestie sich rasend schnell an die Oberfläche zu bannen begann, und er stimmte mit ein.
Die unheilvolle Magie der Seuche transformierte seinen Körper innerhalb weniger Augenblicke vom schlanken, durchtrainierten Körper eines Elwen-Kriegers in die monströse, zentnerschwere Kampfmaschine, die nur aus Muskeln, Klauen und Zähnen zu bestehen schien. Sein Bewusstsein kappte jegliche Verbindung zur Außenwelt, zog sich ins Innere dieses Kampfkolosses zurück, und nahm alles durch den primitiven, blutdurchtränkten Schleier ihrer Gier wahr.
Irgendwo tief in ihren Eingeweiden war seine Elwen-Seele zu einer winzigen, strahlenden Singularität verkommen, sein einziger Rettungsanker zurück zu seinem normalen Dasein. Er wollte töten. Und er würde diesmal keine Schranken kennen.
Sie schrie auf vor Wut, ihr schönes Gesicht verzerrt zu einer Maske, und entflammte lichterloh. Das Feuer war ihre Leidenschaft und das böse Omen ihres jetzigen Daseins gewesen, und schien immer noch ihre bevorzugte Waffe zu sein. Er würde sich in einer tödlichen Umarmung mit ihr verfangen und restlos verglühen, und dann würde es niemanden mehr geben, der seinen Sohn zur Folter eines nicht für ihn bestimmten Lebens zwingen würde. Oder er würde sie töten, bevor sie es vollbringen konnte.
Seine Gaben verstärkten die Selbstheilung der Bestie um ein Vielfaches. Er musste ihren Körper nur so stark beschädigen, dass ihre regenerative Gabe nicht dagegen ankam. In dieser Hinsicht hatte er ihr gegenüber einen großen Vorteil.
Er sprang ihr an die Gurgel. Im direkten Kampf war sie ihm noch nie gewachsen gewesen, nicht einmal dann, als sie den Zugriff auf das Wissen und Können vieler Meister hatte. Sie hatte nicht seine Erfahrung und auch nicht seine Instinkte. Ihr Blut floss wie glühendes Metall seine Kehle hinunter und erstickte einen Aufschrei im Keim, der ohne Stimmbänder nicht mehr möglich war.
Sein Körper spürte nichts als Schmerz, und die Bestie wäre nun geflohen, aber er zwang sie zu bleiben und weiter zu kämpfen. Und das musste er. Während ihr glühender Körper seinen im Schmerz gefangen hielt und seiner Gabe alles an Kontrolle abverlangte, suchte ihr eiskaltes Bewusstsein einen Weg in seines hinein. Sie preschte vor mit einem Rammbock aus eiskaltem Stahl, mit einer Spitze aus Diamant, gegen seinen strapazierten Willen. Plötzlich hatte sie die Überhand und er dachte nur noch an den Tod als Ausweg.
Der Gestank von brennendem Fell und kochendem Fleisch erfüllte den Raum. Seine Krallen rissen an ihrer Gestalt, schlugen eine Wunde nach der anderen. Seine Kiefer zerrten an ihrer Kehle, die sich immer noch standhaft weigerte, zermalmt zu werden. Sein Geist bedauerte für einen Augenblick, dass er dem Beispiel von Kerion nicht folgen können würde, als seine mentale Defensive unter ihrem Andrang barst wie eine fragile Eierschale.
Sein Körper erschlaffte und ließ sie los. Wie eine Marionette trat die Bestie vor ihr zurück und heilte langsam eine Wunde nach der anderen, so wie sich Sarels Körper wieder in seinen makellosen Zustand versetzte als wäre nichts passiert. Dann zwang sie ihn erneut in seine elfische Gestalt zurück.
„Wir werden ihm einen neuen Körper zeugen, Liebster, und mit deiner Kraft kann ich seine Seele zurückholen zu mir. Und dann kannst du meinetwegen sterben, wenn es dir so wichtig ist“, flötete sie mit einem vergnügten Lächeln auf den Lippen.
„Und Kirtan macht mir eine Puppe aus deinem Leib, damit unser Junge mit einem Vater aufwachsen kann.“

Anmerkung: Corrhen, Dubrik, Lôres, Sarel und Kirtan greifen Figuren auf, die in den jeweiligen Kampagnen von ihren Spielern geschaffen wurden. Sie wurden für diese Geschichten weiterentwickelt.
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